„Im Nebenhaus war mal wieder ein neuer Nachbar eingezogen. René, 18 Jahre alt, mächtig cool, oft nicht nüchtern und eigentlich ein dufter Typ. Er wohnte bei seinem geschiedenen Vater. Während dieser in der Reha war, starb seine Mutter, und das wurde ihm der Einfachheit halber in dürren Worten am Telefon mitgeteilt.
Wenige Wochen später: Silvester. Bei Raclette und „Dinner for one“ war es ein richtig netter Abend. Um Mitternacht anstoßen, umarmen, Kuss. „Gesegnetes Neues Jahr, mein Schatz“. Und dann raus auf die Straße, Feuerwehr gucken. Die Nachbarn von gegenüber – eine ganz nette rußlanddeutsche Familie – zünden wie in jedem Jahr Brummer & Heuler als wollten sie die Schlacht von Stalingrad nachspielen. Wir staunen und reden eine Weile.
Und dann sehe ich René am Straßenrand stehen, neben ihm eine riesen Tasche mit Pyrotechnik. Niemand sonst weit & breit. Einsam zündet er eine Rakete nach der anderen. Ich kann diesen Anblick nicht vergessen und jetzt, wo ich darüber schreibe, kommen mir schon die Tränen. Steht der Kerl da an Silvester mutterseelenallein an der Straße und jagt 100€ Pulver in die Luft. Allein!
Ich also zu ihm hin. Mühsam verkneife ich mir die blöde Frage, warum er denn so allein ist. Aber sonst fällt mir nicht viel ein. „Gutes neues Jahr, René.“ Er zieht eine Bierflasche aus der Jacke, köpft sie, nimmt ein Schluck. „Möchten Sie auch eins?“ „Nein danke – hab eben schon ein schluck Sekt getrunken.“ Für René sicher das schlechteste Argument, dass er je gehört hat. Und für mich eigentlich auch. Warum verweigere ich Ihm diese Gemeinschaft? Bin doch sonst nicht so zimperlich. Aber Gott gibt mir eine zweite Chance. René bietet mir an, auch ein paar von seinen Böllern zu zünden. Also greife ich zu, stecke zum ersten mal einen in meinem Leben einen Knaller an und werfe ihn idiotischer Weise auf die Straße, wo ich fast ein Auto in die Luft sprenge. Der nächste fliegt schon besser, und das Geknalle ist so ziemlich die einzige Kommunikation, die wir zustande kriegen. Aber immerhin.
Ich danke Gott, dass ich in dieser Nacht derjenige sein durfte, der René zumindest ein neues Jahr wünschte. Und ab jetzt bete ich für ihn. Mehr kann ich nicht tun. Wir leben in verschiedenen Welten. Aber jemand muss ihm im Namen von Jesus zeigen, dass er wahrgenommen wird, dass er etwas bedeutet, dass er wertvoll ist und dass es nicht egal ist, was aus seinem Leben wird. Jemand muss zu ihm hin, ein paar Nächte mit ihm abhängen, seine Musik hören, ihm Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Ihr könnt das, ihr jungen Leute. Ihr könnt eure Generation erreichen. Die Renés sitzen auf ihren Buden und geben sich die Kante. Packen wir es, aus dem Kuschelclub aufzubrechen und zu ihnen zu gehen?“
Dieser Artikel stammt aus „Shampooflaschen, Plöbmob, Kleingedrucktes“ von Rudolf Westerheide. Er heißt im Buch „Nachts null Uhr in Deutschland“. Unterer Kommentar ist von Stephan Münch in einer Jugendleitermail:
Schaut mal auf YouTube „Darm mit Charme“, wo sich die Medizinstudentin Giulia Enders im Berliner Science Slam geradezu in Verzückung redet, und das Publikum anhand witziger Skizzen und hinreißender Formulierungen in den Bann des Verdauungstraktes und der Darmflora zieht, dann stellt man fest: So geht Wissenschaft auch! Die Fakten werden nicht richtiger, wenn sie unverständliche Namen haben und die Zusammenhänge nicht falsch, wenn sie auch Laien verständlich sind. Poetry Slam war gestern. Heute ist Science Slam. Da können Nachwuchswissenschaftler ihre Forschungsprojekte in einem unterhaltsamen 10-Minuten-Vortrag auf die Bühne bringen, so dass auch fachfremde Zuhörer über Anschauung und Emotionen Zugang zu der Materie gewinnen. Und ich bin sicher: Die Übertragung der hohen Wissenschaft in die Allgemeinverständlichkeit ist nur möglich, wenn die Vortragenden die Materie besser als andere durchdrungen haben, weil sie sich nicht mehr hinter halbverstandenen Fachausdrücken verstecken können.
Es braucht keinen langen Anmarschweg zur Anwendung: Wir sollten Bibel Slammer werden. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist natürlich, dass wir selbst von der Botschaft der Bibel ergriffen sind. Aber dann müssen wir sie auch für andere greifbar machen. Darum sollen meine Predigten keine theologischen Fachvorträge sein, die beeindrucken, aber nicht bewegen. Ebenso wenig sollen deine Andachten aus frommen Floskeln bestehen, die die Aura der Rechtgläubigkeit versprühen und damit Herzen vielleicht erwärmen, aber nicht verändern. Wir müssen uns der mühsamen Aufgabe stellen, die Texte zu erforschen, zu durchdringen und zu durchbeten, um sie dann umso besser in die Begriffs- und Gefühlswelt normaler Menschen umzusetzen. Wenn die Leute dabei immer wieder was zu lachen haben, umso besser, denn nichts erreicht Menschen tiefer und anhaltender als das, was emotional besetzt ist. Dabei bleiben wir selbstverständlich auf das Wirken des Heiligen Geistes angewiesen. Aber was unseren Beitrag angeht, können und müssen wir immer besser werden. Sprache Kanaans war gestern. Heute ist Bibel Slam.